anjesagt

Anjesagtes, Appjefahr'nes und manchmal auch Ausjedachtes
Samstag, 1. Dezember 2018
Einmal Leer und zurück
Heute also der geplante Ausflug nach Leer.
Der Vater ist mittlerweile wieder soweit beisammen, dass er jetzt froh ist, um jeden Atemzug, der ihm noch zusätzlich vergönnt ist - und ich stehe im Grunde nur kopfschüttelnd daneben, weil seine und meine Vorstellung von dem, was ein "lebenswertes Leben" ist, gehen soweit auseinander, dass die Schnittmenge exakt Null ist.
Aber nun, wenn er mit seinem Leben so, wie es ist, zufrieden ist und froh, dass er noch weiter leben darf, nun denn, dann werde ich ihm nicht im Wege stehen.
Er hat sich jetzt also dazu entschieden, Dauerdialysepatient zu sein, also dreimal die Woche für vier Stunden an einer Maschine zu hängen - und sich ansonsten darüber zu freuen, dass er noch lebt.
Auf Borkum kann er dann allerdings nicht mehr leben, da es dort keine Dialyseeinrichtung gibt und er im übrigen auch körperlich und kräftemäßig nicht in der Lage wäre, dreimal die Woche mit dem Schiff aufs Festland zu pendeln. An einem Tag hin und her klappt eh nicht, für drei Tage Dialyse wäre er also exakt sechs Tage unterwegs - da macht es einfach nur sehr wenig Sinn, weiter auf Borkum zu leben.
Zunächst wird er jetzt also in eine Kurzzeitpflege in Leer gehen, bis ich einen Dauerpflegeplatz für ihn gefunden habe, wahrscheinlich ist es dann besser, dass er hier in die Nähe von Münster kommt, da kann ich ihn grundsätzlich besser erreichen als wenn er alleine in Leer ist. Wir werden sehen, wie das weiter geht.

Ich persönlich hätte ja ganz sicher die Alternative Rückkehr auf die Insel in das örtliche Pflegeheim gewählt, dafür dann keine Dialyse und das sichere Wissen, dass man jetzt noch ca. drei Monate weiter atmet, bis man einfach irgendwann eines Tages nicht mehr aufwacht. Ich meine, er ist fast 84, an irgendetwas wird er sowieso sterben müssen, bisher ist noch niemand unsterblich gewesen, und wenn ich dann wählen kann, finde ich Nierenversagen tatsächlich eine angenehme Art des Dahinscheidens. Zumindest deutlich besser als Tumor oder irgendetwas mit Schmerzen.
Aber es ist nicht mein Leben und schon gar nicht mein Tod, deshalb halte ich mich da gepflegt raus und organisiere ihm nur das drumherum.
Er ist durch das monatelange, unbehandelte Nierenleiden längst so geschwächt, dass er gar nicht mehr laufen kann, d.h. er liegt den ganzen Tag im Bett und guckt die Decke an. Er hat keinen Fernseher im Zimmer und kein Telefon, seine Augen sind so schlecht, dass er auch nicht mehr lesen kann - er macht also exakt gar nichts und will dieses Leben nun unbedingt verlängern. Was soll man dazu sagen?
Es ist jetzt auch nicht so, dass er einen Haufen Freunde hätte, meines Wissens hat ihn in den drei Wochen, die er jetzt im Krankenhaus liegt, noch niemand außer mir besucht, für jemand anderen weiterzuleben kann also auch weiß Gott nicht sein Antrieb sein. Aber ich werde es sowieso nicht verstehen, also denke ich am besten da auch nicht weiter drüber nach. ICH muss ja zum Glück nicht so leben.

Ansonsten hat heute alles gut geklappt, auf dem Hinweg nach Leer sind wir noch bei Emsa ins Emsdetten vorbeigekommen, wo heute der letzte Tag des jährlichen "Wintersonderverkaufs" stattfand, so dass wir spontan die Gelegenheit für einen Stopover genutzt haben. Eine Stunde und 148 € später sind wir dann weitergefahren. Ich war aber sehr begeistert davon, dass ich es dieses Jahr wirklich geschafft habe, da mal wieder hinzugehen, vor drei Jahren war ich mit meiner Schwester am Eröffnungstag da, da war es so viel deutlich voller, dass mir für die Folgejahre erst mal die Lust vergangen ist. Heute habe ich gelernt: Der Schlusstag der Aktionswoche ist viel interessanter, denn erstens war es im Vergleich zum Eröffnungstag wirklich fast leer und zweitens wurde heute echt gnadenlos geräumt und es gab überall "2 für 1" Angebote, also kauf 2 bezahl 1, was ideal ist, wenn man sowieso zwei parallele Haushalte betreibt.
Ich habe deshalb meinen Bestand an "Clickfix-Dosen" gründlich erweitert, diesmal alle aus Glas, weil hygienischer, langlebiger und überhaupt gefühlt besser, und jetzt bin ich allen Vorratsherausforderungen eines Haushaltes souverän gewachsen. Außerdem war es eine gute Gelegenheit, jetzt schon mal ein paar Weihnachtsgeschenke zu erwerben und weil ich grade in Kauflaune war und alles andere so bemerkenswert preiswert erwerben konnte, habe ich jetzt auch eine GTI-rote Thermostasse, manchmal muss auch so ein Gimmick einfach sein.

Dann weiter nach Leer, dort ebenfalls einkaufen, Klamotten für den Vater und Lebensmittel für uns, außerdem Besuch des Leeraner Weihnachtsmarktes (lohnt sich abolut nicht, es gab noch nicht mal Reibekuchen, K war bitter enttäuscht), aber wir mussten in die Innenstadt, weil wir noch Schuhe für den Vater kaufen mussten und da kam man am Weihnachtsmarkt quasi nicht dran vorbei.
Dann wieder ins Krankenhaus, dort alles abliefern, noch ein kurzes Schwätzchen und dann wieder zurück nach Greven, so kriegt man einen Tag auch gut um.

Für morgen habe ich ausschlafen geplant, und mehr weiß ich noch nicht, aber mit hoher Wahrscheinlichkeit werde ich das Haus nicht verlassen
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Ein bewegender Beitrag! Ich wünsche Ihnen und Ihrem Vater ganz viel Kraft in der Situation.

"Ich persönlich hätte ja ganz sicher die Alternative Rückkehr auf die Insel in das örtliche Pflegeheim gewählt, dafür dann keine Dialyse und das sichere Wissen, dass man jetzt noch ca. drei Monate weiter atmet, bis man einfach irgendwann eines Tages nicht mehr aufwacht. Ich meine, er ist fast 84..."

Ohne es in irgendeiner Form wertend zu meinen, glaube ich, dass man solche Entscheidungen erst treffen kann, wenn man sich tatsächlich in der entsprechenden Situation befindet. Das wünscht man aber natürlich keinem.

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Natürlich weiß niemand vorher, wie er in einer Situation reagieren oder entscheiden wird, die er in der Form noch nie erlebt hat bzw. im Zweifel nur einmal erleben kann.

Ich bin aber interessanterweise in meinen eigenen Reaktionen und Entscheidungen relativ zuverlässig stringent.
Ich kann mich zum Beispiel noch sehr gut daran erinnern, wie mir früher, bevor ich eigene Kinder hatte, von allen Eltern, deren Erziehungsverhalten ich in irgendeiner Form mit "ich würde...." kommentierte, gesagt wurde "Krieg du erst mal eigene Kinder, dann sieht das plötzlich alles ganz anders aus." - Nun, ich bekam eigene Kinder und nix sah anders aus. Ich habe tatsächlich die "drastischen Erziehungstipps", die mir als Kinderlose schon vernünftig erschienen, auch bei meinen eigenen Kindern umgesetzt. Die haben übrigens überlebt und sind auch alle ganz munter, und, was für mich das wichtigste ist: ich glaube, die mögen mich auch alle noch.
Etwas, was meinem Vater nie gelungen ist, das nur nebenbei bemerkt, dabei hat er sich immer sehr viel darauf eingebildet, nur das Beste für seine Kinder zu wollen.

Ich für meinen Teil habe längst eine Vorsorgevollmacht aufgestellt und unterschrieben und darin muss ich ja auch heute, wo ich gesund und fit bin, Dinge entscheiden, die ich im Ernstfall vielleicht dann anders entscheiden würde, weil mich im Ernstfall eventuell der Mut verlässt, es wirklich durchzuziehen. Das weiß man halt wirklich nicht vorher.
Aber falls mich im Ernstfall wirklich der Mut verlässt - dann habe ich schon heute entschieden, dass da bitte niemand Rücksicht drauf nehmen möge, denn ein Leben zu führen wie das, für das sich mein Vater nun entschieden hat, davor gruselt es mir ganz ausdrücklich.

 
Ich habe mich nicht mit den Details befasst, ob Nierenversagen denn tatsächlich so eine komfortable Methode wäre, diese Welt zu verlassen. Aber man hat mir glaubhaft versichert, dass das Weiterleben mit Nierenstatus G 5 und ohne Dialyse definitiv auch kein Spaß wird, im Grunde reden wir ja von einer schleichenden Vergiftung.

So gesehen kann ich schon verstehen, wenn Ihr Vater dieser Unbill aus dem Weg gehen will. Natürlich mit dem Risiko, sich andere und noch größere Unbill einzuhandeln, was weiß man schon? Ich könnte jedenfalls nicht sagen, ob ich mit 84 und schon schwer angeschlagen die Entscheidung pro Dialyse getroffen hätte.

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Die medizinischen Details rund um Niere habe ich mir auch grade erst erläutern lassen, in "Leber" kenne ich mich besser aus, daran ist CW verstorben.
Aber die Ärzte, mit denen ich gesprochen habe, haben mir übereinstimmend versichert, dass es sehr gute Möglichkeiten gibt, einem Menschen der sich mit G5 gegen eine Dialyse entscheidet, das Leben bis zum sicheren Ende noch durchaus erträglich zu gestalten.

An der Entscheidung meines Vaters fasziniert mich nur, mit welcher Hartnäckigkeit er an einem Leben hängt, was mir schon vor seiner Nierendiagnose als im Grunde nicht lebenswert erschienen ist und was im jetzigen Zustand noch um einiges weniger lebenswert wird.
Aber genau das ist halt wirklich seine Entscheidung und wenn er damit zufrieden ist, nun, dann soll es so sein.

 
"mit welcher Hartnäckigkeit er an einem Leben hängt, was ... weniger lebenswert wird." Das leuchtet mir ein, diese Hartnäckigkeit. Ist es nicht das innerste, wichtigste Ziel eines jeden Lebewesens, einfach zu leben, so ätzend dieses Leben auch immer sein mag? Ich vermute, dass noch das eingeschränkeste, schmerzvollste Leben besser ist als zu sterben. Aber natürlich kann ich mich darin auch täuschen.

 
Ist es nicht das innerste, wichtigste Ziel eines jeden Lebewesens, einfach zu leben, so ätzend dieses Leben auch immer sein mag?

Das ist wahrscheinlich die Kernfrage - denn ich würde dieser Aussage nicht zustimmen.
Ein Blick in die Biologie lehrt, dass die Natur es nur als das innerste, wichtigste Ziel eines jeden Lebewesens sieht, sich zu vermehren. Wenn das erfolgt ist bzw. nicht mehr möglich ist (Alter), sieht die Natur keinen Nutzen mehr in einer Weiterexistenz des Körpers.
Rein biologisch schaltet der Körper ab ca. 40 auf "kann weg". Das heißt, die Natur gibt sich keinerlei Mühe mehr, den Körper mit aufwändigen Eigenreparaturen immer wieder fit und frisch zu erhalten, sondern lässt ihn ganz entspannt dem Kompost entgegensegeln.
Die Menschen gehen mit der Natur nicht konform und wollen diesen Abbauprozess ganz dringend stoppen oder wenigsten aufhalten - ich kann das grundästzlich verstehen, würde aber nicht so weit gehen, dass es oberstes Ziel eines jeden Lebewesens ist, einfach nur zu existieren.