anjesagt

Anjesagtes, Appjefahr'nes und manchmal auch Ausjedachtes
Freitag, 17. Dezember 2021
Vittumies, Eskimos und alte Blechbüchsen
Neulich* gab es im medialen Blätterwald eine große Aufregung, irgendein Politiker hatte das böse "N-Wort" gesagt.

Die Medien überschlugen sich, bei Lanz, Maischberger, Plasberg & Co. saß entweder dieser Politiker oder eines seiner "Opfer", auf allen Kanälen hoch und runter wurde darüber diskutiert, nur ich stand etwas irritiert daneben und verstand längere Zeit ganze Teile der Diskussion bzw. der Vorwürfe nicht, weil das böseste N-Wort, was ich kenne, Nazi heißt, und es dauert eine Weile, bis ich begriff, dass es gar nicht darum ging, dass der in der Kritik stehende Politiker einen anderen Menschen Nazi genannt hatte, sondern er hatte irgendein Zitat zitiert, in dem das Wort Neger vorkam.

*Der Auslöser für den Text ist schon etwas älter, ich bin aber heute erst dazu gekommen, ihn fertigzustellen

Es gibt also viele böse N-Worte und ich war mal wieder viel zu verpeilt, weil ich nicht spontan dafür sensibilisiert bin.

Dabei hätte ich es wissen können, also, dass es mehr als ein böses N-Wort gibt, denn ich erinnere mich an eine ältere Dame aus dem entfernten Bekanntenkreis meiner Eltern. Die konnten wir als Kinder in höchste Bedrängnis bringen, wenn wir in ihrer Gegenwart das Wort "nackt" verwendeten. Sie wurde jedesmal rot, wenn das Wort fiel, das war sehr lustig.
Bei Facebook werden bis heute alle Bilder mit nackten Nippeln (doppelt böses N-Wort) verpixelt, damit scheint dem Thema "nackt" ja immer noch eine gewisse Problematik anzuhängen.

In dem Fall, der hier durch die Medien geprügelt wurde, ging es aber weder um nackte Nazis noch um notgeile Nutten (darf man bestimmt auch nicht sagen), sondern um nervige Neger.
Erwähnt wurden sie zwar nur als Zitat eines Zitates, aber auch mit doppelten Gänsefüßchen eingerahmt scheint es höchst verwerflich zu sein, solche Wörter zu benutzen.

Was ich an der gesamten Sachlage schwierig finde, ist die Umkehrung des Aussagewillens.
Es kommt also nicht mehr darauf an, ob derjenige, der böse Wörter sagt, diese Wörter absichtlich benutzt, um jemanden damit vorsätzlich zu beleidigen oder anzugreifen oder herabzusetzen oder verächtlich zu entwürdigen oder in welcher Form auch immer verbal anzugreifen, sondern das reine Aussprechen so eines verbotenen Wortes genügt und schon melden sich in Mengen wildfremde Menschen, die persönlich gar nicht davon betroffen sind, spielen sich als Retter der Entrechteten auf und greifen andere Leute aktiv an, weil Wörter benutzt wurden, die sich nicht gehören.

Mich erinnert das immer an diesen alten Witz, wo sich die Eltern über eine Konzertveranstaltung unterhalten und der Mann den Auftritt der Sängerin als sehr bescheiden bezeichnet. Sagt das Kind: "Mama, Papa hat Scheide gesagt."

Welche Wörter sich nicht gehören und auf dem Index stehen, muss man als Politiker, der in der Öffentlichkeit pauschal irgendwelche Dinge sagt, unbedingt auf dem Schirm haben und man sollte jedem Politiker empfehlen, diese Indexabfrage auch täglich zu aktualisieren, damit ihm bloß kein neu aufgenommenes Wort durchflutscht, weil, sonst Shitstorm, siehe oben.

Jetzt ist es natürlich so, dass es schon immer einen Index mit verbotenen Wörtern gab. Oft sind es ganze Themenfelder, die indexiert sind, die zeichnen sich dann dadurch aus, dass es den Menschen unsäglich peinlich ist, überhaupt darüber zu reden und deswegen sagt man auch die entsprechenden Wörter nicht. So geriet das Wort "nackt" auf den persönlichen Index der erwähnten älteren Dame, weil es einfach zu unschicklich ist, sich irgendetwas oder irgendjemanden nackt vorzustellen, definitiv zu dicht dran am absolut unmöglich auszusprechenden Sex. Iiieeh, pfui Spinne, nein wirklich, das geht unter gaaar keinen Umständen, gar keinen.

Unschicklich ist überhaupt ein wichtiges Wort im Zusammenhang mit indexierten Wörtern, denn natürlich sind auch alle brauchbaren Schimpfwörter indexiert, Contenance zu bewahren ist die oberste Benimmregel für jeden auch nur halbwegs gebildeten Menschen.

Weshalb Wörter auf dem Index stehen ist dabei völlig irrelevant, denn es geht ja nicht darum, was die Wörter originär bedeuten und auch nicht darum, was ein Mensch, der eines der verbotenen Wörter benutzt, eigentlich sagen will, sondern um dass, was jemand anderes in die Wörter hineininterpretiert und welches Themenfeld die tonangebende intellektuelle Schickeria grade als "Ausdruck einer schlechten Erziehung" brandmarken will.

In meiner Jugend war Sex immer noch ein Indexthema. Zwar nicht mehr so verpönt wie in den Jugendzeiten der älteren Dame, aber durchaus noch spürbar.
Wenn sich ein Themenfeld beginnt, aus dem allumfassenden Klammergriff des Index zu lösen, wird es zunächst mal richtig schwierig, denn jetzt braucht man plötzlich erlaubte Wörter, die sich aber deutlich unterscheiden müssen von den nach wie vor unaussprechlich indexierten. Erlaubte Wörter zeichnen sich meist durch eine große Umständlichkeit aus. Ficken zB ist ein sehr starkes Indexwort, wenn man so eine Tätigkeit einigermaßen anstandswahrend benutzen möchte, muss man Begriffe wie "Geschlechtsverkehr ausüben" wählen, weil man damit immerhin recht zuverlässig signalisiert, dass man sich dieser Tätigkeit nicht tierisch und triebgestört hingibt, sondern immer noch mit der nötigen Contenance und Überlegenheit, die die menschliche Rasse ja überhaupt erst zu dem macht, was sie ist, überlegen eben.

Wenn ein Themenfeld beginnt, sich aus dem Index zu lösen, muss dafür dringend Ersatz gefunden werden, sonst würde nachher jeder einfach reden, wie ihm der Schnabel gewachsen ist, das geht ja mal wirklich überhaupt nicht, Sodom und Gomorrha, und, noch viel schlimmer, die intellektuelle Schickeria hätte deutlich an Einfluss verloren. Das darf auf keinen Fall passieren, und weil Sex immer stubenreiner wurde, lancierte man geschickt ein neues Themenfeld randvoll mit brisanten Tabuwörtern. Unter dem Stichwort Rassismus und kulturelle Aneignung sagte man der wachsenden Unachtsamkeit in der Sprache aktiv den Kampf an.

Seitdem stehen Wörter wie Neger, Indianer und Eskimo auf dem Index und wehe dem Politiker, der das nicht sauber beachtet.

Themenfelder, die sich grade neu in den Index begeben, sind genauso kompliziert zu handhaben, wie Themenfelder, die sich beginnen, aus dem Index zu lösen. Man darf zwar über das Thema reden, muss aber genau wissen, welche Begriffe (noch) erlaubt sind und welche bereits verboten.
Das ist kompliziert und ich bin heilfroh, dass ich kein Politiker bin und das täglich beachten muss, denn sinnvolle logische oder für mich nachvollziehbare oder einprägsame Gründe sind selten dabei.

Neger zB kommt von dem lateinischen Wort für schwarz=niger.
Im Deutschen darf man weder Schwarzer noch Neger sagen, im Deutschen sind es Menschen mit dunkler Hautfarbe. Im Englischen darf man aber Schwarzer durchaus noch sagen, sogar mit viel Stolz, black lifes matter ist eine absolut anerkannte Bewegung, und in Südafrika unterscheiden sich die Blacks explizit von den Coloureds.

Warum nun ausgerechnet in Deutschland schwarz so unaussprechlich wurde, weiß ich nicht, ich habe aber begriffen, dass ein Politiker problemloser ficken sagen kann als Neger. Neger ist ein 100%iges Ausschlusswort geworden und unfraglich shitstorm bewehrt.
Jeder Index sagt natürlich auch etwas über die Zeit aus, in der er gültig ist.

Dass man Eskimo nicht mehr sagen darf, habe ich übrigens ganz neulich erst gelernt, s.o. ich bin halt kein Politiker und leiste mir deshalb eine relativ naive Verpeiltheit.
Aber Eskimo heißt in der Sprache der Inuit irgendetwas schlechtes (hab mir natürlich nicht gemerkt was, aber es war böse), und deshalb ist das Wort auch dann böse, wenn es ein Deutscher benutzt, der gar kein Inuitisch spricht, also gar nicht weiß, was er da für Schauerlichkeiten ausspricht. Eskimo bleibt auch ein böses Wort vom Index, wenn ein Deutscher mit einem anderen Deutschen über Menschen, die dort irgendwo im hohen Norden leben, redet, auch dann, wenn beide Deutschen kein Inuitisch können und sich deshalb gar nicht übersetzen können, was das Wort heißen mag, Index ist Index und deshalb einfach nur merken: Eskimo sagt man nicht (mehr).

Dieses lustige Verbot eines Wortes, von dem ich gar nicht weiß, was es heißt, erinnert mich immer an vittumies.
Vittumies ist finnisch und bedeutet etwas unsäglich unaussprechlich Widerliches. Auf Deutsch gibt es gar kein passendes Wort dafür, so schrecklich ist es, vittumies ist einfach nur ganz große Index-Verbots-Kategorie in Finnland.
Jetzt ist es so, dass ich einen Freund habe, der Finne ist, und wenn ich den ärgern will, dann sage ich mitten in einer vollen Kneipe in seiner Anwesenheit plötzlich ganz laut "Vittumies". Außer dem finnischen Freund reagiert darauf in einer deutschen Kneipe natürlich niemand, der Freund zuckt dafür aber jedesmal ganz erschrocken zusammen und versucht mir spontan den Mund zuzuhalten. "Pssst!!! Bist du wahnsinnig? Sowas sagt man nicht." Es ist ihm ganz offensichtlich sehr peinlich, Menschen zu kennen, die derart schlecht erzogen sind, dass sie solche Wörter sagen.

Und so wie ich als Kind das ältere Fräulein regelmäßig mit Nackterzählungen geschockt habe, so ärgere ich den finnischen Freund auch gerne mit meiner schlechten finnischen Erziehung.
Ich glaube, ich bin wirklich schlecht erzogen, aber es macht mir sehr viel Spaß, andere zu ärgern.

Mir fällt übrigens grade noch was ein zu dem Thema:
Als ich ein Kind war, waren natürlich alle Schimpfwörter auf das Strengste verboten.
Trotzdem brauchen auch Kinder Schimpfwörter, weil sich auch Kinder manchmal über andere Menschen ganz ungemein ärgern und ihrem Ärger dann durch Beschimpfung Luft machen möchten.
Weil ich aber Arschloch als unbestreitbar wirksames Beleidigungsschimpfwort damals nicht sagen durfte, habe ich mir Ersatz gesucht und für mich beschlossen, dass "du alte Blechbüchse" ein noch viel schlimmeres Schimpfwort ist als Arschloch und schon war allen geholfen
.

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