anjesagt

Anjesagtes, Appjefahr'nes und manchmal auch Ausjedachtes
Sonntag, 27. Dezember 2020
Schlager
Durch Zufall bin ich gestern auf WDR3 in einen ausführlichen Schlagerrückblick von 1970 bis heute geraten und habe mich dann festgeguckt, weil es mich einerseits faszinierte, wie viele Schlager und vor allem auch Schlagersänger und -innen ich kannte, aber auch dass in dieser Zusammenfassung Sänger waren, die ich selber gar nicht in dieses Genre einsortiert hätte.
Gleichzeitig ist mir aber auch aufgefallen, dass meine Kenntnis von bekannten Schlagersänger- und -innen samt ihren Liedern ungefähr Mitte der 80er aufhört, alle, die danach erst berühmt wurden, hat meine Wahrnehmung nicht mehr registriert bzw. einige wenige sind mir (inzwischen) zwar vom Namen her bekannt, weil eben so viel über sie berichtet wurde, dass das selbst in meiner stark gefilterten Informationsblase ankam, ich bringe sie aber tatsächlich nicht mit irgendeinem Song in Verbindung bzw. ich kenne ihre berühmtesten Songs einfach nicht.

Nun ist mein Musikgeschmack noch nie geeignet gewesen, irgendwelchen Mainstream Anforderungen zu genügen, auch nicht, wenn ich als benchmark für den jeweils "wichtigen" Mainstream nur den Geschmack meiner jeweiligen Peergroup ansetze.

Versaut habe ich mir das dadurch, dass ich einerseits schon sehr früh Liedermacher ganz prima fand (und Musicals übrigens auch), mich aber gleichzeitig nicht in der zu Liedermachern gehörenden Fangemeinde wiederfand. Falsche Peergroup für mich, sozusagen, weil eindeutig zu viel Ideologie (also, ich meine, der typische Liedermacherfan ist überwiegend gleichzeitig auch in der grün-linken oder der Gemeindepfarramts-Ideologie zu verorten) und auf Ideologie reagiere ich ja identisch wie auf Religion, ich halte sehr gerne sehr viel Abstand.
Ich finde, jeder kann das mit dem Glauben und den Überzeugungen für sich halten wie er will, aber meine wichtigste Überzeugung ist, dass ich meine Meinung bitte jederzeit ändern können möchte, wenn ich neue Informationen habe, die meine bisherige Meinung plötzlich komplett anders beleuchten und das wird in ideologisch geprägten Gruppen nun mal gar nicht gern gesehen.

Weil ich mich also den Liedermacherfans nicht anschließen mochte, Musicals sowieso nur was für ganz andere Leute waren und ich gerne von den ideologisch ungeprägten Typen aus dem Reitstall und von der Clique am Borkumer Südstrand akzeptiert werden wollte, habe ich mich einfach an den Charts der damaligen Zeit orientiert, wenn es um meinen "offiziellen" Musikgeschmack ging und dabei sehr früh gelernt, dass Schlager eher was für ältere Leute sind, die meinen, sie müssten auch noch Party machen. Also so für Leute ab 30 oder so und dass es für jüngere Leute wie mich total uncool war, Schlager zu mögen. (Musicals war übrigens "Intellektuellen-Musik", da ist die Peergroup für 15-16jährige noch dünner besetzt und Streber wollte ich ja nun auch auf gar keinen Fall sein.)
So bis Mitte der 70er war es dabei relativ einfach, Schlager als Schlager zu identifizieren, das waren nämlich alle deutschen Lieder, die keine Liedermacherlieder waren. Es wurde dann etwas komplizierter als Marius Müller-Westernhagen gemocht werden durfte. Dessen Lieder waren cool und wurden auf jeder Fete gespielt, das gefiel mir, denn endlich hatte ich auch mal ganz in echt einen Mainstream-Geschmack. Aber Peter Maffay war deshalb noch lange nicht akzeptiert und Udo Jürgens war schwierig, aber immerhin nicht so schlimm wie Tony Marschall, Roberto Blanco oder Roy Black. Es gab außerdem einzelne Ausnahmen, für die wurde man nicht sofort in die ewige Musikgruftihölle verbannt, wenn man die mochte, z.B. Juliane Werding mit "Am Tag als Conny Kramer starb", das wurde grade noch mit zugekniffenen Augen akzeptiert, obwohl es natürlich cooler war, gleich das Original von Joan Baez zu hören.
Dass in dem Schlagerrückblick, den ich da gestern sah, Udo Jürgens auf einer Stufe neben Rex Gildo einsortiert wurde, das fand ich dann schon schräg, weil er zumindest in meiner Welt früher nicht als zu verachtender Schlagerfuzzi galt. Es war nicht cool ihn zu mögen und er war auch kein echter Liedermacher, aber irgendwie eher doch sowas als ein Schlagerstar. Nun ja.

Die Sendung Hitparade war für die Erwachsenen (also die ab 30), das guckte man höchstens, weil man es gucken durfte, aber nicht weil man selber interessiert war. Ich guckte es vor allem deshalb ganz gerne, um zu lernen, bei welcher Musik ich ordnungsgemäß die Augen verdrehen musste, wenn Freunde dabei waren.
Angesagte, also akzeptierte Musik gab es bei Ilja Richter in der "Disco", was ich versuchte, regelmäßig zu gucken, einfach deshalb, damit ich informiert war, welche Songs grade "heiß" waren. Das war die preiswerteste und bequemste Variante. Echte Freaks hörten natürlich ständig Radio und kauften sich im Zweifel auch noch passende Zeitschriften, das war mir viel zu lästig, weil ich die Musik selber ja gar nicht hören wollte, sondern nur die wichtigsten Informationen zum darüber Mitreden brauchte.

In den 80ern bekam ich "neue" Musik dann entweder übers Radio mit, was beim Autofahren lief und natürlich wenn man abends ausging, da wurden die Charts ja auch hoch und runter gespielt. Mein Kontakt zu Erwachsenen (also denen über 30) wurde immer weniger, keine Teilnahme an gemeinsamen Feten mehr, ich war alt genug, um auf eigene Feten gehen zu können. Dementsprechend spärlich wurden auch so nach und nach die Informationen über neue Schlager - und irgendwann war ich dann von Informationen über dieses Musikgenre sozusagen abgeschnitten, weil, wo hätte ich etwas darüber erfahren können? Niemand in meinem Umfeld hörte diese Musik, ich glaube, ich hielt Schlager lange Zeit für so etwas wie Kölnisch Wasser - das wird mit meiner Elterngeneration irgendwann aussterben.

Ich erinnere mich gut, dass ich 2006 das erste Mal etwas von Andrea Berg hörte, weil der Maler, der auf Borkum den Innenanstrich erledigt hatte, so von ihr schwärmte und ich aus Neugier dann diesen Namen googelte und vor Erstaunen fast vom Stuhl fiel, als ich las, wie viele Millionen Schallplatten diese Frau schon verkauft hatte.
Das hat mich damals schon erstaunt und gestern gab es ja noch viele weitere Informationen über Schlagersänger und -innen, die heute angesagt sind und ich stellte fest, dass ich tatsächlich kaum einen der Namen kannte, obwohl die teilweise das x-fache an Platten verkaufen verglichen mit den Leuten, die meiner Meinung nach grade in den Charts sind.
Immerhin wusste ich schon, wer Helene Fischer ist und von "dem Wendler" hatte ich auch schon gehört, allerdings vor allem deshalb, weil sich so viele Satiriker so häufig über den lustig machen. Roland Kaiser (kenne ich, noch von früher und außerdem kauft er häufig mit mir gleichzeitig im selben Großmarkt in Münster ein, man kennt sich sozusagen vom Einkaufen), also dieser Roland Kaiser hat jetzt eine Platte mit Florian Silbereisen gemacht und den hätte ich stumpf unter "Volksmusik" abgelegt und plötzlich wurde mir klar, dass es neben Schlager und der Hitparade (für die Leute ab 30) ja früher auch noch Volksmusik und den blauen Bock gab (für die Leute ab 60) und dass es etwas ähnliches also sicher heute auch noch gibt - nur, wer verdammte Axt, guckt das noch?

Und dann habe ich mir überlegt, dass meine frühere Einteilung, also Schlager sind vor allem was für "Leute ab 30" und Volksmusik ist was für Rentner, vielleicht tendenziell früher gepasst hat, so ganz grob, aber dass ich damit heute keine einfache Abgrenzung mehr zu mir definieren kann, weil, sonst hätte ich die letzten 28 Jahre ja schon Schlager hören müssen bzw. wenigstens hätte ich Freunde haben müssen, die Schlager hören und demnächst wechseln dann alle zur Volksmusik und das halte ich alles für extrem unwahrscheinlich.

Es muss also ganz andere Unterschiede geben und dann wurde mir klar, dass es neben meiner kleinen, eingeschränkten Miniwelt ein gigantisch großes Paralleluniversum geben muss, in dem Millionen von Menschen leben, die auf Schlager und auf Volksmusik stehen und dafür auch richtig viel Geld ausgeben - die aber alle für mich nicht sichtbar sind.
Und das hat mich dann sehr nachdenklich gemacht
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