anjesagt

Anjesagtes, Appjefahr'nes und manchmal auch Ausjedachtes
Freitag, 6. Mai 2022
Wohnen und Ansprüche
Ich habe heute ein wenig darüber nachgedacht, wie unterschiedlich die Ansprüche der Menschen sind, wenn es um Wohnen und Einrichtung geht.

Eine (sehr entfernte) Bekannte von mir ist Minimalistin. Sie lebt in einer 200qm Wohnung, die im Wesentlichen leer ist. Oder, anders ausgedrückt: Die Wohnung ist randvoll mit minimalistischem Freiraum. Sie sagt, sie braucht diese optische Ruhe, um runterzukommen und durchzuatmen, ihr Leben besteht sonst schließlich hauptsächlich aus Stress, Hektik und Termindruck.

Ich glaube ja, ihr Leben besteht vor allem deshalb aus Stress, Hektik und Termindruck, weil sie jeden Monat die 4000 € verdienen muss, die die Wohnung an Miete kostet.
Um 4000 € Miete bezahlen zu können, muss man 8000 € brutto verdienen, schließlich wird die Miete aus dem Nettoverdienst bezahlt. Und wenn man nur 8000€ verdient, kann man sich so eine Wohnung auch noch lange nicht leisten, schließlich braucht man im Zweifel noch weitere 2,50 € für Essen, Trinken, Kleidung, Extras, Urlaub, und sonstigen Kram.

Wer in so einer leeren Freiraumwohnung lebt, der atmet da sicherlich jeden Tag beim Heimkommen mal gründlich durch - aber was macht sie dann? Gibt ja nix in der Wohnung, was man machen könnte. Vielleicht noch ein iPad zum Netflix gucken. Oder Kochen nach Zahlen mit einer einzeln angelieferten Hello Fresh Box. Die sind für Minimalisten natürlich prima, alles passend abgezählt für eine Mahlzeit, außer Verpackung bleibt nix über und die geht in den Müll. Das ist schön. So kann man den wahren Minimalismus ungehemmt ausleben. Blöd nur, dass es so unendlich teuer ist, nix zu besitzen. Aber naja, diese Bekannte verdient sicherlich genug für so ein Hobby, schließlich liefert sie sich ja extra zur Finanzierung dieser Leere all dem Stress, der Hektik und dem Termindruck aus. Jeder folgt eben seinem eigenen Stil.

Eine andere Bekannte hat grade mit ihrem Freund zusammen ein Haus gebaut. Sie haben in einer Neubausiedlung am Rand der Stadt ein Grundstück bekommen und sich dann für ein Fertighaus entschieden, weil sich die meisten anderen Bauherren in der auch alle für diesen Fertighaushersteller entschieden haben.

Alles in allem ist der Spaß nicht wirklich preiswerter als ein individuell geplantes Haus, aber man bekommt alles ankreuzfertig vorgesetzt. Wie so eine Pauschalreise mit Vollpension, man muss nur noch sagen, welche Ausflüge man dazu buchen will und ob einem ein Zimmer mit Meerblick einen Aufpreis von 10% wert ist. Außerdem hat es natürlich auch den großen Vorteil, dass man sich in den Häusern der Nachbarschaft sofort blind auskennt, sind ja schließlich alle gleich. Inklusive Einrichtung übrigens, auch die wurde einem von der Fertighausfirma gleich mitvermittelt, auch wieder zum Ankreuzen mit der Auswahl, ob man den Tisch lieber in eckig oder oval haben möchte. Und alle Teile natürlich perfekt auf die Maße des Hauses abgestimmt. Wenn das mal nicht der höchstmögliche individuelle Komfort ist.

Wieder eine andere Bekannte wohnt mit ihrer Familie (zwei Kinder unter 10, ein Hund und ein Mann) in einer 80qm Wohnung mitten in Münster, zweite Etage, leider kein Balkon. Den vermisst sie, aber ansonsten findet sie die Wohnung ideal wegen der Lage, weil sie so viele Leute in der Gegend kennt. Man muss dazu wissen, dass sie vor fünf Jahren von München nach Münster gezogen ist und exakt niemanden hier kannte. Jetzt kennt sie aber viele Leute in dem Viertel wo sie wohnt, was meiner Meinung nach völlig normal ist, wenn man kleine Kinder hat und die in diesem Viertel zur KiTa und zur Schule gehen.

Wenn sie 10km außerhalb wohnen würde, könnte sie für dasselbe Geld, was sie jetzt an Miete bezahlt, eine doppelt so große Wohnung mieten, aber da kennt sie ja niemanden.
Seit Corona ist sie ziemlich gestresst, weil es schwierig ist, mit zwei Kindern und zwei Erwachsenen im Homeoffice auf 80qm für 24/7 zu leben, aber sie genießt den Blick aus dem Schlafzimmerfenster, was gleichzeitig ihr Home-Office Büro ist, denn sie schaut auf eines der prächtigen Münsteraner Kaufmannshäuser und dieser Blick entschädigt sie für vieles, sagt sie.

Ich wiederum brauche vor allem Platz, weil ich Enge hasse. Ein Wohnen in der Stadt käme für mich also nicht in Frage, viel zu eng, viel zu wenig Platz, alles voller Steine, voller Autos, voller Menschen, - nein, für mich völlig undenkbar.

Minimalismus mag zwar den Vorteil haben, dass es ja keinen Kram gibt, der Platz wegnimmt - aber was macht man denn dann, wenn man zuhause ist?
Ich finde Minimalismus so ziemlich das Langweiligste, was ich mir überhaupt nur vorstellen kann, gleich nach Leben in einem Gefängnis, denn im Grunde ist es wurscht, weshalb man nichts macht, in beiden Fällen fehlt es an jeder Möglichkeit, um spontan Dinge in seinem Zuhause zu machen.

Ich brauche also Platz und ich brauche Kram und Dinge - und genau deshalb ist ein klassisches Einfamilienstandardhaus auch nichts, was ich mir wünsche, denn wenn ich meinen Kram da reingeräumt habe, gibt es keinen Platz mehr.
Was ich mir auch nicht wünsche, ist eine durchdesignte Edel- oder auch nur Pseudoedeleinrichtung. Also so eine Einrichtung, wie man sie üblicherweise in Schöner Wohnen oder entsprechenden Pinterestsammlungen findet - oder wie sie der Fertighaushersteller in seiner Möbel-Musterkollektion seinen Bauherren gleich mitanbietet. Dagegen wirkt Ikea richtig uninspiriert und rebellisch.

Weil ich also hauptsächlich weiß, was ich alles nicht will, finde ich es schon sehr beeindruckend, dass es unserem Architekten trotzdem gelungen ist, ein Haus zu entwerfen, an dem ich inzwischen nichts mehr zu meckern habe. Ich hätte nicht geglaubt, dass das gelingt
.

240 x anjeklickt (...bisher hat noch niemand was dazu gesagt)   ... ¿selber was sagen?