anjesagt

Anjesagtes, Appjefahr'nes und manchmal auch Ausjedachtes
Mittwoch, 16. März 2022
Noch mehr Alter
Ich bin noch nicht damit fertig, mit dem sprunghaften Älterwerden zu hadern.

Ich war immer so stolz auf meinen fatalistischen Pragmatismus. "Hilft ja nix."- einer meiner Standardsätze, denn wenn Sachen sind wie sie sind, ist es sinnvoller, sie einfach zu akzeptieren und sich einen pragmatischen Weg raus aus der Katastrophe zu suchen, statt sich in die Ecke zu setzen und alle drei Affen auf einen Schlag zu imitieren.

Zwar bin ich noch nicht so weit, dass ich die Realität durch Nichtwahrhabenwollen versuche zu negieren, aber immer öfter passiert es mir, dass sie mich ausknockt und dass ich dann statt energisch die Ärmel aufzukrempeln und wegen Widerstand und "hilft ja nix" mit doppelt soviel Energie nach einem Ausweg suche, verstört und bewegungslos vor dem Chaos stehe und mich hilflos fühle.

Immer öfter passiert es mir, dass mir Sachen zu viel werden, dass ich einfach nicht mehr kann, noch nicht mal aufregen kann ich mich dann und das ist bei mir wirklich ein sehr schlechtes Zeichen.

Es ist eine nicht zu leugnende Tatsache, dass ich nicht mehr so viel schaffe wie früher und dass alles, was ich mache, regelmäßig länger dauert, als ich selber vorher dachte, dass ich dafür benötige.
Meine Verlangsamung ist dabei so ruckartig passiert, dass mein Kopf damit gar nicht richtig mitgekommen ist. Ich denke immer noch, ich kann alles mal eben schnell wegerledigen und bin dann am Abend bass erstaunt, was ich mal wieder alles nicht geschafft habe, mich dafür aber nach einem 9 Stunden Arbeitstag fühle wie nach einer Doppelschicht ohne Wochenende.

Außerdem mache ich Fehler und zwar solche Fehler, wie ich sie bei andren Leuten sehr verachte, nämlich gehäufte Mengen an Flüchtigkeitsfehlern. Einzelne Flüchtigkeitsfehler können immer mal passieren, das ist nichts schlimmes, aber wenn sich diese Ungenauigkeiten häufen, dann sieht es nach einem strukturellen Problem aus und dagegen sollte man unbedingt was tun.

Leider habe ich noch keinen Plan, was ich dagegen tun könnte, denn das einzige, was mir einfällt wäre, langsamer und sorgfältiger zu arbeiten, aber das ist zur Zeit mit meinem Kopf noch nicht vereinbar.
Denn der wehrt sich sofort und sagt: "Was, NOCH langsamer? Dann schaffe ich ja überhaupt nichts mehr, das kommt auf keinen Fall in Frage. Für noch langsamer fehlt mir die Zeit."

Überhaupt, die Zeit, das ist auch so ein Problem.

Früher war ich immer fest davon überzeugt, dass die Zeit zu den Menschen gehört und wenn ein Mensch älter und langsamer wird, dann wird auch seine Zeit langsamer. Er braucht ja auch nicht mehr so viel, dachte ich früher.
Junge Menschen rennen oft im Dauerlauf durch ihre Tage, da muss die Zeit genauso fit sein und neben ihnen her joggen. Jungen Menschen geht vieles nicht schnell genug, sie treiben die Zeit deshalb ständig an und verlangen Höchstleistungen.
Ich dachte, wenn man die Zeit nicht mehr antreibt, wenn man selber langsamer geht und mehr Pausen macht, dann passt sich die Zeit an und vergeht auch langsamer.

Ich fürchte, das war eine ziemlich Fehlvorstellung, denn ich stelle fest, dass das nicht stimmt, sondern es ist genau umgekehrt. Je langsamer ich werde, umso mehr rast die Zeit. Alles verfliegt nur noch, Wochen, Monate, Jahre, alles rauscht in einem irren Tempo an mir vorbei und einmal nicht aufgepasst, wusch, schon ist wieder ein Jahr um.

Es ist also wahrscheinlich so, dass die Zeit grundsätzlich immer mit Mach 3 unterwegs ist, dass aber junge Menschen noch genug Energie haben, um bei diesem Tempo mitzuhalten, aber je älter und je langsamer man wird, umso mehr muss man sich daran gewöhnen, dass die Zeit schneller ist als man selber.
Das ist eine ziemlich unangenehme Erkenntnis, aber wahrscheinlich liegt auch genau hier die Erklärung, warum ich für so vieles keine Erklärung mehr habe: Es war alles da, es lag alles in der Luft und ich hätte nur danach greifen müssen, aber es ist mit der Zeit an mir vorbeigeflogen und ich war nicht mehr schnell genug, zum richtigen Moment nebenher zu laufen und die wichtigen Dinge rauszufischen.

Jetzt hoffe ich nur, dass das Feature "altersgerechtes Zeitgefühl" nicht auch schon an mir vorbeigeflogen ist, sondern dass ich es mir demnächst noch runterladen kann, um mich endlich nicht mehr so verloren zwischen den rasenden Tagen der Gegenwart zu fühlen
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