anjesagt

Anjesagtes, Appjefahr'nes und manchmal auch Ausjedachtes
Montag, 25. November 2019
Bildungsklassenunterschiede
Gestern auf der Fähre saßen am Nachbartisch vier Mädchen, die offensichtlich das Wochenende zuhause verbracht hatten und jetzt wieder unterwegs zu ihrer Ausbildungsstätte waren.
J ist ja viele Jahre so gependelt, allerdings saßen diese Mädchen nicht dort, wo die Internatsschüler üblicherweise sitzen, sondern an einer ganz anderen Stelle im Schiff und während ich am Nachbartisch gar nicht umhin kam, ihr Gespräch mitzuhören, war ich auch sehr schnell davon überzeugt, dass diese vier sicher nicht aufs Internat gehen, um dort Abitur zu machen. Denn auch mit einer schlechten Meinung über das Niveau heutiger Abiturienten - so schlecht kann die Meinung nicht sein, dass man diesen Vieren zugetraut hätte, angehende Abiturientinnen zu sein.

Mich faszinierte an ihrem Gespräch vor allem, dass jede etwas aus ihrem Ausbildungsalltag erzählte, was sie im Brustton der tiefsten Empörung vortrug, denn der allgemeine Tenor war: "Es ist wirklich unverschämt, was die Ausbilder alles von einem erwarten, die setzen einfach ein Grundwissen voraus, was in der Form niemand haben kann."
Und dann erzählte jede, wie sie sich nur mit viel persönlichem Einsatz und Glück grade eben noch so durch die letzte Klausur gerettet hatte, weil, das alles zu wissen, was da abgefragt wurde, das ist schlicht unmöglich.
Die erste erzählte ohne jede Scheu, dass sie persönlich ja nie Prozentrechnung gelernt habe. Da wäre irgendeine Umstellung im Lehrplan auf der Realschule gewesen, dann hätte auch noch der Lehrer gewechselt und dann sei sie selber krank gewesen - also, Prozentrechnung, das wüsste sie bis heute nicht, wie das geht. Aber neulich in der Klausur, da hätte sie einfach mit Prozenten rechnen müssen - ohne zu wissen, wie das überhaupt geht. Das sei schon ein starkes Stück, dass da niemand gefragt habe, ob überhaupt alle Prozentrechnung können.
Aber sie hätte die Klausur trotzdem bestanden, zum Glück seien in der Medizin ja alle Klausuren nur Multiple Choice Fragen und da hätte sie einfach die Antworten angekreuzt, wo die ähnlichsten Zahlen verglichen mit der Fragestellung vorkamen, sie hätte sogar 85% Punkte gehabt, dabei ist Medizin ja bekanntlich wirklich ein schwieriges Studium.

Mich verwirrte diese Aussage sehr, denn wie kommen Menschen, denen ich schon spontan kein Abitur zutraue, an einen Studienplatz für Medizin?

Die nächste erzählte dann etwas aus ihrem Alltag und dass sie einen Stundenplan hätte, wo einfach nur die Obergriffe der Fächer draufstehen, also Staatsrecht oder Zivilrecht, aber überhaupt keine Details, welchen Bereich aus dem Staats- oder Zivilrecht man in welcher Vorlesung macht, das müsse man ganz alleine rausfinden.
Es fielen dann noch Wörter wie "Semester" und "Dozent" und ich wurde immer verwirrter.
Die eine studiert Medizin, die andere Jura?
Und alle machen den Eindruck, als könnten sie alternativ auch in einer Reality-Show im Privatfernsehen auftreten, meine Welt geriet zugegebenermaßen leicht ins Wanken.

Ich hörte also immer weiter zu, inzwischen sehr neugierig und schielte dann auch rüber, als sie alle begannen, irgendwelche Hefter auszupacken, weil sie wohl noch "Hausaufgaben" machen mussten oder zumindest dringend noch etwas lernen wollten.

Es stellte sich schließlich heraus, dass alle vier eine Ausbildung in Emden machen und sich nur zu viert eine Wohnung teilen, weil das WG-Leben für Auszubildende, die nicht zu Hause wohnen können, deutlich preiswerter ist. Die eine wird Re-No, die andere Arzthelferin, was genau die beiden anderen machen, habe ich nicht mehr verfolgt, aber meine Welt war wieder grade gerückt, als feststand, dass keine der vier Frauen studierte und auch keine Abitur hatte, sondern sie eben alle nach der 10. Klasse eine Ausbildung auf dem Festland begonnen hatten.

Weshalb ich das erzähle? - Weil mich fasziniert hat, mit welcher Selbstverständlichkeit sie für ihre Ausbildung Wörter benutzten, die ich sonst nur mit einem Universitätsstudium in Zusammenhang gebracht hätte und wie sehr sie selber auch davon überzeugt waren, dass eine Arzthelferin im Grunde ein vergleichbares Medizinstudium machen muss, um die Prüfung zu bestehen und dass sie aber gleichzeitig auch keinerlei Problembewusstsein hatten, dass es eventuell ihre Aufgabe sein könnte, fehlende Grundkenntnisse in der Mathematik selbstständig nachzuholen.
Die angehende Re-No erklärte den anderen selbstbewusst, wie ein Kaufvertrag zustande kommt und dass der Verkäufer dem Käufer einen Antrag macht, den der Käufer entweder unverändert annimmt, wenn er aber eine Änderung einbaut, dann ist der Vertrag nicht geschlossen, sondern jetzt hat der Käufer dem Verkäufer einen Gegenantrag gemacht. Und sie schmückte ihren Vortrag noch mit vielen weiteren Beispielen und vielen anderen, falsch verwendeten Fachbegriffen aus.
Das war alles sehr niedlich und auch die angehende Frau Doktor mit der fehlenden Prozentrechnung war schon sehr süß - ich habe dann allerdings länger darüber nachgedacht, welche Welt jetzt eigentlich realer ist: Die Welt, in der diese vier Frauen ganz selbstverständlich und von keinerlei Zweifeln geprägt ihr tägliches Leben auf einem Niveau leben, was die Wertigkeit ihres eigenen Selbstbildes eindeutig unterstützt - oder meine Welt, die eine deutliche Bildungsklassenunterscheidung macht, in der deshalb Ärztin und Arzthelferin ungefähr so viel gemein haben, wie Kind und Kindergärtnerin.

Ich bin zu keiner abschließenden Meinung gekommen, denn für die Auszubildenden ist es bestimmt besser, mit einem großen und starken Selbstwertgefühl durchs Leben zu marschieren, um sich nicht unnötig klein und unbedeutend wegzuducken, wenn die Obermenschen mit der Universitätsausbildung daherkommen, als Patient oder Mandant möchte ich dann aber doch lieber von einem richtigen Arzt oder Anwalt behandelt oder beraten werden, ist vielleicht alles eine Frage des Blickwinkels
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