anjesagt

Anjesagtes, Appjefahr'nes und manchmal auch Ausjedachtes
Dienstag, 29. Juni 2021
Vom Schrottplatz der Sprache
Ich erwähnte ja schon, dass ich Herrn Martenstein, Redakteur des Tagesspiegels und Kolumnist bei Zeit online, sehr schätze, und das nicht nur wegen des Inhalts seiner Texte, sondern und vor allem auch wegen seines Schreibstils. Ich bin regelmäßig beeindruckt und neidisch, wie perfekt er komplexe Gedankengänge strukturiert, die wichtigsten Überlegungen rauspickt und auf unnachahmliche Weise in höchst einfacher Sprache sehr lesenswert zusammenfasst.
In seiner letzten Kolumne macht er sich Gedanken über das Schreiben und dass man es verlieren kann, wenn man älter wird (Euro) und dieser Text hat mir vor allem an zwei Stellen gut gefallen, nämlich ganz zu Anfang, wo er George Orwell zitiert:
"Benutze niemals eine Metapher, einen Vergleich oder eine Redewendung, die man oft gedruckt sieht. Benutze niemals ein langes Wort, wo es auch ein kurzes tut. Wenn ein Wort gestrichen werden kann, dann streiche es. Benutze niemals das Passiv, wo auch das Aktiv geht. Benutze niemals ein Fremdwort, ein Fachwort oder einen Jargon-Ausdruck, wo ein umgangssprachlicher Ausdruck passt."
Am besten gefällt mir der Schlusssatz, mit dem Orwell sein Dogmengebäude sofort wieder einreißt: "Brich jede dieser Regeln, bevor du etwas völlig Schreckliches schreibst."

Er nennt es eine "Bauanleitung für Texte" die Orwell da verfasst hat und diese Beschreibung mag ich spontan sehr, weil ich Metaphern, Vergleiche und auch Redewendungen prima finde - wenn sie nicht schon zu oft gedruckt wurden.

Und ein Stück weiter steht dieser Satz:
Heute habe ich die letzten drei, vier Mails meiner Mutter an mich noch einmal gelesen, Sätze, die im Nirgendwo enden, Wörter, die nur noch ein Schrottplatz für Buchstaben sind.
Er leitet damit ein in das Thema, über das er eigentlich schreiben möchte, nämlich wie es sein wird, wenn man seinen Geist verliert und er trifft damit ein Thema, das mich auch regelmäßig beschäftigt. Man wacht ja nicht eines Morgens auf und ist fortgeschritten dement, sondern das passiert ganz langsam und schleichend.

Ein Spruch, den ich immer wieder zitiere, weil ich ihn so lebensnah finde, ist:
Mit 50 bemerkt man, dass man Dinge vergisst.
Mit 60 merken es auch die anderen.
Mit 70 merken es nur noch die anderen.

Ich bin jetzt 58 und ich bemerke es täglich mehr. Noch bin ich geschickt genug, meine Aussetzer gut zu vertuschen und vor allem über aktiv gepflegte Merkzettel und Notizen zu minimieren, aber wie lange geht das noch gut?
Nächstes Jahr werde ich 60 und es ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich Angst vor einem Geburtstag habe. Denn ich habe schon eine Menge Leute alt werden sehen und es hat mir in keinem Fall gefallen. Mir jetzt selber dabei zuzusehen, wie ich langsam verblöde, das ist schon ein wenig gruselig, finde ich.
Andererseits: Ändern kann ich es auch nicht, ich werde also wohl lernen müssen, mich daran zu gewöhnen.

Getröstet habe ich mich dann mit der Überlegung, dass es auch jede Menge formal geistig komplett fitter Menschen gibt, die so formulieren, dass ihre Sätze grundsätzlich nur ein Schrottplatz für Wörter sind und mit diesem Bild im Kopf war ich dann so wunderbar abgelenkt, dass ich das unangenehme Thema spontan wieder vergessen habe.

Geht doch
.
(Abgelegt in anjesagt und bisher 416 x anjeklickt)

... ¿hierzu was sagen?

 
Aus meiner aktuellen Erfahrung mit meiner dementen Mutter möchte ich dem Bild vom Schrottplatz widersprechen. Das hieße ja, dass die Sprache der Dementen zu 100% funktionslos wäre. Dem ist nicht so. Mir kommt es eher vor wie ein unkontrolliert verwilderter Garten, in dem sich nur noch hier und da eine Erdbeere zwischen wuchernden Unkräutern findet.

Überhaupt steckt mir in der Idee vom Schrottplatz zu sehr der rationale Gedanke von Sprache als einem maschinenartigen Werkzeug, das weggeschmissen gehört, sobald es der Kontrolle der Ratio nicht mehr gehorcht. Ich sehe an meiner Mutter, wie sehr sie das Leben genießt, auch wenn sie das meiste nicht mehr begreift - und vieles von dem, was sie noch begreift, nicht mehr in die passenden Worte fassen kann. Und es verblüfft mich, wie sehr ich die Persönlichkeit mit ihren guten und schlechten Seiten auch in der aktuellen Minimalversion noch erkennen und mit ihr interagieren kann.

... will damit sagen, dass "Verblöden" gar nicht so gruselig ist. Natürlich nichts Schönes, so wie ja auch die anderen möglichen Begleiterscheinungen des Alterns nicht gerade schön sind. Aber besser als gar nicht mehr zu leben allemal. (Außerdem finde ich die die Idee, dass jemand halt langsam, Stück für Stück von dieser Welt verschwindet, irgendwie ganz sympathisch.)

... ¿noch mehr sagen?  

 
Ihr Bild mit dem wildwuchernden Unkrautgarten, in dem sich ab und zu auch vereinzelt eine Erdbeere findet, ist sicherlich das wesentlich bessere und vor allem positivere Bild.
Ich will auch gar nicht abstreiten, dass Demenz für den, der dement ist, ein Problem ist. Flapsig gesagt, merkt er es ja nicht mehr und kann sein Leben deshalb gänzlich ungestört von geistigen Vorgaben genau wie ein Kind genießen.

Was mich schreckt, ist nicht die Demenz, sondern der Weg dahin, der eben noch reichlich lichte Momente hat und in diesen Momenten sehe ich, wohin ich gehe und das reizt mich eben leider überhaupt nicht.

Liegt vielleicht auch an meiner höchstpersönlichen, eigenen Definition zum Sinn meines Lebens, denn der liegt meiner Meinung nach für mich nicht einfach darin, zu existieren, die Wärme der Sonne zu genießen, die Vöglein zu hören und den Duft des Sommers einzuatmen, sondern ich möchte auch gerne noch irgendeinen praktischen Nutzen haben.
Und den kann ich für mich nicht mehr erkennen, wenn ich meinen Geist verliere.

Die wahren Abenteuer sind im Kopf - sang einst André Heller und damit beschrieb er exakt mein Leben.
Die wirklich wichtige Realität hat sich bei mir immer im Kopf abgespielt, das analoge, stoffliche, körperliche Leben mit seinen praktischen Herausforderungen, Problemen und sicherlich auch angenehmen Genießermomenten, war für mich immer nur Beiwerk. Das macht man halt, weil es ja gar nicht anders geht, aber wirklich wichtig war immer das, was ich im Kopf daraus gemacht habe. Und wenn der nicht mehr funktioniert, dann fehlt mir eben genau das, was mir Zeit meines Lebens immer das Wichtigste war.
Und vor diesem Verlust grusele ich mich und noch mehr grusele ich mich davor, mir selber dabei zuzusehen, wie es passiert.

 
Verstehe. Einen praktischen Nutzen hat der Demente sicher nicht mehr. Und vielleicht schöne ich das auch ein bisschen (erinnere mich eine beängstigende Begegnung mit einer beginnend dementen Freundin meiner Eltern, als ich noch Jugendlicher war, die mit erschreckten Augen ausrief: "Ach, das ist schrecklich, wenn man alles vergisst!" - und auch meine Mutter wimmert manchmal: "Was ist nur los mit mir?"), aber das ist dann eben meine Strategie (ich bin in Ihrem Alter) das Thema Älterwerden anzugehen.