anjesagt

Anjesagtes, Appjefahr'nes und manchmal auch Ausjedachtes
Montag, 29. Oktober 2018
Stadt
Es ist ein altes Phänomen, dass Themen in der eigenen Wahrnehmung grundsätzlich dann verstärkt überall auftauchen, wenn man meint, man sei selber nur durch ganz persönlich konstruierten Zufall und vor allem ganz alleine und individuell mit diesem Thema konfrontiert worden.

Das erste Mal ganz offensichtlich aufgefallen ist mir das in meiner ersten Schwangerschaft.
Ich habe selber erst sehr verspätet überhaupt erfahren, dass auch mir so etwas (schwanger werden) nicht nur theoretisch, sondern auch tatsächlich und in echt passieren kann (denn eigentlich habe ich nicht daran geglaubt, dass so ein bisschen Pille vergessen, derart weitreichende Folgen haben könnte) - aber knapp wusste ich, dass ich unvermeidbar schwanger bin, war die Welt plötzlich voll mit Kinderwägen. Es war wirklich faszinierend, aber die Kinderwagendichte in meiner Umgebung hatte sich nur durch meine Schwangerschaft schlagartig verfünfzigfacht, allerdings erst ab der 12. Woche, denn vorher war ich mangels eigenen Darumwissens ja mit dem Thema noch gar nicht befasst.

Dass mit der Schwangerschaft hat sich bei mir ja nun wirklich endgültig als Thema erledigt, dafür begegnet mir im Moment aber das Stadtthema überall und zwar derart verstärkt, dass ich es wirklich bemerkenswert finde.

Ich selber bin eigentlich mit der Erklärung "das ist Geschmackssache, so wie Koriander" vollkommen zufrieden, denn sie kommt meinem Nichtvorstellungsvermögen sehr entgegen. Ich kann mir im Grunde ja auch nicht wirklich vorstellen, dass man Koriander nicht mögen kann, habe aber gelernt, dass es Menschen gibt, die da sehr entschieden reagieren. (Eine Ablehnung, die ich dagegen bei Zitronengras sofort teilen kann, btw).
Menschen, die gerne in Städten leben, sind für mich damit einfach genauso seltsam, wie Menschen, die keinen Koriander mögen oder anders ausgedrückt, sie sind mir genauso suspekt, wie Menschen, die Zitronengras mögen und damit wäre die Sache für mich erledigt. Ich bin froh, dass es so seltsame Menschen gibt, schließlich habe ich dadurch mehr von den Dingen, die mir wichtig sind, und mehr muss ich mit diesen Menschen ja nun auch wirklich nicht zu tun haben.
Als Franzose würde ich sagen "chacun à son goût", mein Juraprof hätte gesagt "suum cuique" und ich würde mir erst dann Gedanken machen, wenn der Spruch von innen auf einem Stadttor zu lesen wäre.

Es scheint aber (meine Wahrnehmung, damit für mich genauso skurril wie die vielen Kinderwägen, die ich vor 27 Jahren plötzlich sah), dass ganz plötzlich überall Menschen aufploppen, die das Thema diskutieren wollen.
Entweder mit mir persönlich (das Thema "Vorteile des Stadtlebens" kam in der letzten Zeit in für mich ungewöhnlich vielen Smalltalksituatiunen vor) oder ganz allgemein, dann lese ich darüber in irgendwelchen Blogs oder anderen Stellen im Internet. Und die allerallermeisten Menschen, deren Meinung mir begegnet, betonen die Vorzüge der Stadt. Die Vielfalt, die Möglichkeiten, das Angebot, die Auswahl, die Offenheit, die Fröhlichkeit, die Lebendigkeit, die Wärme, ach, eben all den Kram, den man nur hat, wenn ganz viele Menschen auf einem Haufen zusammen kommen, die Vorteile, die nur durch die schiere Größe einer Gemeinschaft entstehen. Sie erläutern lang und breit, wie viel Nutzen der Einzelne daraus ziehen kann und wie wichtig der Zusammenhalt in derartigen Gemeinschaften auch für die Gesellschaft als Ganzes ist und dass nur so Fortschritt entsteht.

Das mag nun alles so sein und ich will da auch wirklich niemandem widersprechen, ganz im Gegenteil, wahrscheinlich ist eine in Stein und Beton eingepferchte und in Hochhäusern aufgestapelte Existenz in stinkiger Luft umgeben von Dauerlärm und blinkenden Lichtern die eigentliche Rechtfertigung des Menschen für die Massentierhaltung und Abholzung der Regenwälder, denn warum sollte es den Tieren besser gehen als den Menschen und gegen die globale Erwärmung bauen wir uns einfach Klimaanlagen. Man muss das nur aus dem richtigen Blickwinkel sehen, ich habe da bisher nur nie drüber nachgedacht.

Aber jetzt, wo mir von so vielen Seiten die Vorteile des Stadtlebens so klar offenbart wurden, jetzt habe ich endlich verstanden, dass ich es bin, die sich komplett rückständig und gesellschaftlich gefährlich neandertalerhaft verhält, in dem ich die Vorteile der städtebaulichen Massenmenschhaltung so boshaft negiere.
Aber die ungebildete Landbevölkerung war ja auch schon immer eine schwierige Klientel, was Meinungsbildung angeht, rückständig, stur und unbelehrbar.
Es tut mir wirklich leid
.
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Antwort eines Stadtmenschen
Ich lebe in einer Großstadt (Hamburg ) und sehe durchaus ihre Nachteile. Vor allem: Lärm. Jeden Morgen wache ich zwischen vier und fünf auf und muss das Schlafzimmerfenster schließen, weil der Autobahnzubringer erwacht. Das ist schon sehr lästig. Noch lästiger ist die Menschenzusammenballung, wenn man am Hauptbahnhof oder an den Gerichten umsteigen muss oder in der Mönckebergsstraße einkaufen will, wo es zwar vieles gibt, aber auch alles voller Menschen ist.
Genießen kann ich die Großstadt, wenn ich abends kurz vor 20 Uhr noch Lebensmittel brauche (z.b. zum abendlichen Kochen) und die in 5 Gehminuten bei Aldi oder Edeka holen kann. Bei Rewe geht es sogar bis 23 Uhr, da treffen sich allerdings die Alkoholkäufer (das passt nur, wenn man selber einer ist).
Auch das kulturelle Angebot (Lesungen, extravagante Kinofilme, Theater) sprechen für die Großstadt. Sicher ist das mit hohem Organisationsaufwand auch in kleineren Städten möglich. Aber neulich waren wir zum Beispiel spontan mit einem befreundeten Ehepaar in einem Off-Theater in HH-Hamm, auf gut Glück, und es war super, dramaturgisch wie schauspielerisch. Ein solches Erlebnis wäre in einer Kleinstadt eher unwahrscheinlich.

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Dass das Leben in einer Großstadt unbestritten Vorteile hat, ist selbstverständlich. Ebenso selbstverständlich finde ich, dass jeder Mensch für sich selbst eine Abwägung und Gewichtung aller Vor- und Nachteile vornimmt und daraus dann entscheidet, ob er lieber in der Stadt oder lieber auf dem Land oder vielleicht irgendwo dazwischen leben möchte.
Was ich völlig normal finde, sind individuell unterschiedliche Gewichtungen derselben Vor- oder Nachteile, denn das ist tatsächlich persönliche Geschmackssache. Dass es Menschen gibt, die den Krach vielleicht lästig finden, aber nicht als komplett unerträglich einstufen und sich dafür mit Wonne ins quirlige Nachtleben einer Großstadt stürzen, wohingegen andere diese Lärmbelästigung als die schlimmste Strafe überhaupt empfinden und freiwillig auf vieles verzichten, nur um dem Lärm zu entgehen - um da nur mal ein Merkmal als Beispiel herauszugreifen - das finde ich alles sehr gut vorstellbar und würde auf dem Thema Stadt ja oder nein auch gar nicht weiter rumreiten. Wenn da eben nicht jene seltsamen Koinzidenzien gewesen wären, die mir grade in den letzten paar Tagen immer wieder schon fast zwanghaft versuchten, reine Pro Stadt Argumente nahezubringen und das nicht nur als positive Verherrlichung, sondern auch durch aktives Herabsetzen der "rückständigen Landbevölkerung". Spätestens dann habe ich mich zunehmend aufgeregt - und musste meiner Aufregung einfach nur mal hier in meiner kleinen Blogecke Luft machen.

 
Das mit der rückständigen Landbevölkerung ist eh Quatsch. Mein Cousin, der in Badisch-Sibirien einen Hof betreibt, war mir Medienfuzzi Jahre voraus, was Internet-Nutzung und dergleichen angeht. Der hatte schon zu Usenet-Zeiten Futtermittel übers Netz bestellt - das war noch vor dem Start des WWW.

 
Den Cousin finde ich klasse.
Ansonsten ging es nicht um rückständig im Sinne von "weniger weit", sondern eher im Sinne von "intellektuell zurückgeblieben". Es sind halt nur die coolen Städter die wahren Checker, die für so entscheidende Dinge wie Diversity, Liberalität für jede Sorte Existenz und Freiheit der Andersdenkenden ein Feeling haben, weil die das ja auch täglich vor Augen haben und aktiv damit leben.

Auf dem Land dagegen lebt irgendeine bewegungsunfähige braungraue Masse Mensch, die neue Nazis gebären und AfD wählen, oder so.

 
Dieses urbane Checkertum habe ich lange genug selber vertreten. Mit den Jahren (und einer etwas anderen Lebenssituation) ist aber das Bewusstsein für die Schattenseiten dieser Existenzform stärker geworden. Die vielgerühmte Toleranz in der Stadt ist um den Preis einer gewissen Abstumpfung und Verdrängung erkauft, da sollte man sich keinen Illusionen hingeben.