anjesagt

Anjesagtes, Appjefahr'nes und manchmal auch Ausjedachtes
Montag, 26. Juni 2023
Über Mitleid, Vorsatz und Gefahrenbewertung
Ich habe über diese Rammsteingeschichte nachgedacht und bin der Meinung, dass es extremst wahrscheinlich ist, dass dieser Herr Lindemann keinen respektvollen Umgang mit Frauen Menschen pflegt, ich bin deshalb überzeugt, dass all diese Frauen, die von übergriffigen sexuellen Handlungen und Erfahrungen mit diesem Herrn berichten, ihre eigenen Erlebnisse korrekt wiedergeben und zwar nicht, um sich wichtig zu machen, sondern einfach nur, weil sie es wirklich so erlebt haben.
Jetzt kann man darüber diskutieren, ob das legal oder illegal ist, was da abgelaufen ist, das ist mir persönlich in diesem Fall aber relativ egal. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass es theoretisch* illegal ist und dass der gute Herr Lindemann hier nach Ausnutzen der legalen Möglichkeiten zur Sexbeschaffung auch ein paar alternative Möglichkeiten angewendet hat, aber mein Mitleid mit den derart geschändeten Frauen hält sich trotzdem in Grenzen.

*theoretisch deshalb, weil es ihm ja erst noch formal juristisch nachgewiesen werden muss und da er sich problemlos einen extrem gewieften WinkelAdvokaten als Verteidiger leisten kann und natürlich auch so einen angeheuert hat, stehen die Chancen gar nicht mal so schlecht, dass der alles Illegale wegdiskutiert.

Wenn es dem Esel zu wohl wird, geht er aufs Eis.
Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um.

Sprüche meiner Großmutter, die sich in meinem Kopf verankert haben und dazu führen, dass ich die Eigenverantwortung wichtiger finde als eine mögliche Empathie.

Ja, es ist nicht in Ordnung, dass sich einzelne Menschen so benehmen wie Herr Lindemann, andererseits bin ich aber auch der Meinung, dass man wissen sollte, dass die Welt voll ist von Menschen, die sich scheiße benehmen und dass deshalb ein gewisser Abstand zu bestimmten Menschen sinnvoll ist. Jeder beurteilt selber, zu welchen Menschen er persönlich lieber Abstand hält, aber im Fall von Herrn Lindemann hätte ich persönlich den Sicherheitsabstand definitiv eingehalten.

Das liegt sicherlich zu einem Gutteil daran, dass ich so ziemlich das Gegenteil von einem Fan dieser Musikrichtung bin, denn bekanntlich ertrage ich Musik ja nur bis zu einer Lautstärke von 60 Dezibel, alles, was lauter ist, empfinde ich als Stress und Rammsteinmusik geht, glaube ich, erst bei 100 Dezibel los, wenn man sie ganz leise dreht.
Länger als drei Sekunden ertrage ich die Musik also sowieso nicht, ich hatte deshalb aus rein körperlichen Gründen gar keine Chance, mich dem Zauber dieser Musik zu nähern oder mich gar in sie zu verlieben.
Was mir etwas besser bekannt ist, sind die Texte dieser Gruppe und die Gedichte des Herrn Lindemann, denn die kann man ja einfach (leise) lesen, obwohl ich auch hier zugeben muss, dass ich sie nur teilweise kenne, ist auch eher nicht so meine Stilrichtung.

Wahrgenommen habe ich auf alle Fälle, dass die guten Herren Rammstein einen ziemlichen Lärm machen und dabei reichlich düstere Gewaltphantasien ins Mikrofon brüllen.
Nun mag es Menschen geben, die das toll finden, hier greife ich zu meinem Lieblingsspruch: Chacun à son goût.
Aus reiner Neugier wäre ich zwar grundsätzlich an einer psychologisch-wissenschaftlichen Antwort interessiert, welches Grundbedürfnis Menschen haben müssen, um so etwas zu mögen, meine küchenpsychologische Deutung sagt mir, dass Fans dieser Musik tief in sich drin eine ganz große Unzufriedenheit mit sich herumtragen, die sie üblicherweise aber so tief in sich verschlossen halten, dass sie sie oft selber gar nicht wahrnehmen.
Unzufriedenheit mit sich, mit der Welt, mit allem möglichen und dass sie deshalb dieses wütende, hasserfüllte Gebrüll als Kompensation benutzen. Sie möchten nicht selber hassen, finden es aber toll, wenn es andere tun, weil sie sich dann plötzlich nicht mehr so alleine und unverstanden fühlen, sondern sich ohne schlechtes Gewissen in diesen (künstlichen) Hass fallen lassen können. In dem Krach, der durch diese Musik ja eh schon erzeugt wird, geht ihr eigener Hass komplett unter, sie können ihn rauslassen, selber rausbrüllen und damit eben auch ein Stück weit loswerden.
Das ist nicht nur ein befreiendes Gefühl, sondern auch ein tröstliches, weil es erstens so viele sind, die das tun und weil es außerdem offiziell Kunst ist und Kunst darf alles. Kunst als Therapieform.

Da ich also kein Fan bin, habe ich natürlich auch überhaupt kein Bedürfnis, mich in irgendeiner Weise Herrn Lindemann zu nähern, Fans dieser Gruppe haben da verständlicherweise ganz andere Bedürfnisse.

Wenn ich aber Raubtiere, Giftschlangen oder Hannibal Lecter bewundere, weil die etwas in mir berühren, was sonst nur im Verborgenen ruht und ich es toll finde, wenn ich das mal rauslassen darf, ganz ehrlich, kann ich dann vernünftigerweise erwarten, dass die sich regelkonform benehmen, mit mir gepflegten Small Talk machen, gendern und sich politisch korrekt verhalten?

Ich mein halt, das sollte man vernünftigerweise nicht erwarten. Es wäre toll, wenn es so wäre, aber wenn es anders ist, nun ja, wer sich in Gefahr begibt…

Auch mit den im verschwundenen U-Boot verschollenen Menschen fällt es mir schwer, Mitleid zu haben. Hier verspüre ich eher so etwas wie "das musste doch auch wirklich nicht sein", wenn ich höre, dass die Passagiere aus reinem Geldüberfluss kombiniert mit oberschichtiger Langeweile eine Viertelmillionen Dollar dafür bezahlt haben, dass sie in diesem Mini-U-Boot die Titanic begucken fahren.

Mitleid habe ich dagegen mit den tausenden von Flüchtlingen, die aus schierer Verzweiflung ihre Heimat verlassen und sich auf äußerst gefahrvolle Wege ins Ungewisse begeben, weil sie der Überzeugung sind, dass sie es wenigstens versuchen wollen, ob sie etwas Besseres als den Tod irgendwo finden.
Vielen gelingt das nicht und sie finden den Tod im Meer, wenn mal wieder ein komplett überfülltes Flüchtlingsboot kentert, aber all diese Menschen haben sich weder aus Langeweile noch aus Übermut, Naivität oder Gedankenlosigkeit in die Gefahr begeben, in der nicht wenige dann auch wirklich umkommen - hier verspüre ich ein ganz enorm großes Mitleid, weil ich es schrecklich finde, wenn Menschen dem Schicksal so gnadenlos ausgesetzt sind
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